Im Gänsemarkt trifft man sich offline

Die beiden Brüder Carsten und Samuel Waldeck helfen zuerst Steve Jobs mit ihrem Traum von einem iPhone. Dann revolutionieren sie den gesamten Handy-Markt mit ihrem nachhaltigen Shiftphone. In den kommenden Jahren wollen die beiden Unternehmer aus Falkenberg den digitalen Wandel aktiv mitgestalten und setzen sich dabei für ein werteorientiertes Wirtschaftssystem ein. Der Gänsemarkt Falkenberg ist ein erster Schritt dazu.

Die technologische Entwicklung der nächsten Jahre

Capenwray Hall ist ein Ort zum Träumen: Das Herrenhaus in der englischen Grafschaft Lancaster wirbt damit, ein Platz zu sein, „an dem Gott Leben verändert.“ Doch der 21-jährige Carsten Waldeck hat keine Ahnung davon, dass genau dies geschehen wird. Gemeinsam mit über 300 anderen Studenten hat er sich dafür entschieden, fast ein Jahr in einer Art modernem Kloster zu verbringen. Sein größter Wunsch ist es, Gottes Willen zu tun und ihn besser kennenzulernen. Dort, im „bunk bed“ eines stickigen Sechsbettzimmers, hat er seinen ersten bedeutsamen Traum, das weiß er nach dem Aufwachen noch ganz sicher. Doch an den Inhalt kann er sich nicht mehr erinnern. Carsten spürt, dass er etwas Wichtiges verpasst hat, und besorgt sich für die nächsten Nächte eine Taschenlampe, Stift und Papier.

Während im Mondlicht die Schafe rund um das Herrenhaus grasen, träumt Carsten weiter. Es sind sehr realistische Träume, die der junge Mann schwer nachvollziehen kann, weil es 1991 noch kein Internet für die breite Bevölkerung gibt. In diesen Träumen sieht er das iPhone und das iPad, aber auch viele andere technologische Entwicklung der nächsten 40 bis 50 Jahre. Damit die Bilder nicht verloren gehen, malt er Skizzen in ein kleines, schwarzes Büchlein.

Zurück in Deutschland berichtet er seinem neun Jahre jüngeren Bruder Samuel ausführlich von seinen Träumen. Die beiden teilen sich ein Zimmer und fangen in vielen Gesprächen an, gemeinsam zu spinnen, wie ihre Zukunft aussehen könnte. Sie entdecken, wie ähnlich ihre Gedanken sind, und entwickeln eine intensive Einheit als Brüder. Samuel fühlt sich nicht als der kleine, dumme Bruder, sondern von Carsten wertgeschätzt.

Dieser startet als Design-Student an der Hochschule in Darmstadt. Parallel studiert er noch Informatik, Philosophie und Theologie in Marburg. In seiner Diplomarbeit mit dem Titel „iWorld – eine Studie zur multimedialen Organisation der Weltinformation“ bringt er einen Teil seiner weitreichenden Träume zu Papier: mobiles Internet, Social Networks und smarte Touch-Geräte, die er „iPhone“ und „iPad“ nennt. Aber auch einen „Geospace“ stellt er vor, eine interaktive Weltkugel mit „Streetview“, wie wir sie heute als Google Earth kennen.

Apple wird auf den jungen Visionär aufmerksam

Carsten Waldeck wird Lehrbeauftragter an der Hochschule Darmstadt und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer Institut. Ein Jahr, nachdem seine Diplomarbeit veröffentlicht wurde, wird Apple auf den jungen Visionär aufmerksam und lädt ihn zur Entwicklerkonferenz nach San Francisco ein, um seine Projekte vorzustellen. Dort trifft er auf Steve Jobs, Bas Ording und viele andere Apple-Größen. Doch ein Mensch, der ihn besonders beeindruckt, ist John Geleynse, der Leiter der Konferenz und seines Zeichens „User-Experience-Evangelist“ bei Apple. Trotz vieler Bemühungen, John persönlich zu sprechen, wird daraus leider nichts: John ist meist umringt von Menschen und sehr beschäftigt.

Die Konferenz geht zu Ende und Carsten ist enttäuscht: Es gibt zwar viele spannende Begegnungen, aber ein echter Durchbruch kommt nicht wirklich zustande. Am darauffolgenden Sonntag geht Carsten in die Kirche. Als nach dem Gottesdienst im Kinosaal das Licht angeht, traut Carsten seinen Augen nicht: Ist das nicht John Geleynse, der sich da eine Reihe vor ihm von seinem Platz erhebt? Carsten geht auf ihn zu und spricht ihn an. Es ist tatsächlich John Geleynse! Er bekommt die Einladung zum Mittagessen und danach das Angebot, für den Rest seiner Zeit im Wohnwagen der Familie zu wohnen, den sie als Gästezimmer in ihrem Garten stehen haben. Jeden Abend nach der Arbeit besucht ihn John im Wohnwagen und sie reden über Gott und die Welt.

John schafft es, Carsten einen Termin auf dem Apple-Campus zu organisieren, um seine Visionen in der „Mobile-Group“ vorzustellen. Neben „iWorld“ präsentiert er auch sein „Liquid Browsing“. Die Mitarbeiter sind fasziniert. Überraschend ablehnend ist dagegen die Reaktion auf seine Vision vom iPhone. Apple hat 1998 den tragbaren „Newton“-Computer eingestellt und glaubt zu dieser Zeit nicht mehr wirklich an den großen Durchbruch von Handheld-Geräten. „Die meisten Mitarbeiter haben mich diesbezüglich daher eher etwas belächelt. Doch im Prinzip hatte ich die Antwort, die in den nächsten Jahren den Durchbruch ermöglichen würde“, so Waldeck heute.

2007 präsentiert Steve Jobs der staunenden Weltpresse das erste iPhone. „Es war Gottes Geschenk an die Menschheit“, betont Carsten und man spürt, dass er keinen Groll gegenüber dem Weltkonzern hegt: „Ich wollte unbedingt, dass es Apple gut geht, und habe ihnen auch kein fertiges Produkt gegeben, sondern nur eine detaillierte und gut gestaltete Vision.“ Während Apple seinen Siegeszug mit dem Smartphone antritt, erfindet Waldeck weiter. Mit seiner ersten Firma iStuff entwickelt er ein spezielles Mikrofasertuch, um den Bildschirm zu säubern. Doch sein Meisterstück soll Liquid Browsing werden: „Die Liquiverse GmbH war eine echte Nummer. Wir gehörten zu den 500 innovativsten Unternehmen der Welt!“ Als Erfinder hat er 50 Prozent Anteil und programmiert mit seinem Start-up eine visuelle Technologie: „Sie soll große Datenmengen auf einem kleinen Display mit 100-facher Effizienz sichtbar machen.“

Der Investor setzt ihm die Pistole auf die Brust

Doch leider kommt es anders als geplant. Kurz vor der Markteinführung versuchen einige Investoren, das Unternehmen zu übernehmen und den Erfinder auszubooten. Er stockt einen Moment und presst die Lippen zusammen: „Der Investor setzte mir die Pistole auf die Brust und wollte mir alles wegnehmen, was ich entwickelt habe. Innerlich war ich sauer auf Gott. Dann habe ich mich gefasst und ihn gefragt, was ich tun soll.“ Im Unternehmen steckt Carstens Erbe: 200.000 Euro hat die Waldeck-Familie investiert.

Carsten wagt einen verblüffenden Schritt: Er verschenkt seine Erfindung und seine Geschäftsanteile an die Investoren. „Ich habe mich entschieden, nicht zu kämpfen, sondern einfach loszulassen.“ Ohne Handy, ohne Laptop steht er mit leeren Taschen auf der Straße und muss am Tiefpunkt überlegen: „Was will ich wirklich und was nicht?“ 2010 geht die Firma in die Insolvenz, der Investor war hauptsächlich an den Patenten interessiert.

Carsten Waldeck nimmt einen Schluck Wasser und fügt sichtlich dankbar hinzu: „Doch damit war die Geschichte noch nicht zu Ende. Durch ein Wunder habe ich viele Jahre später alles wieder zurückbekommen: den Firmennamen, den Sourcecode, die Markenrechte und die URLs“. Nach wie vor träumt er vom Liquid Browsing und ist sich sicher, dass seine Entwicklung eines Tages für jedermann zugänglich sein wird.

Währenddessen hatte sein Bruder Samuel das Abitur gemeistert und sich überlegt, Medizin zu studieren. Doch beim Praktikum im Krankenhaus entdeckt er: „Das passt nicht für mich. Die Schicksale gehen mir zu nahe.“ Ihm wird klar, wie sehr er selbst kreativ denkt: „Ich habe immer lieber gemalt, statt etwas aufzuschreiben.“ Durch Carstens Empfehlung lernt er die Kunsthochschule für Medien in Köln kennen und bekommt dort einen Studienplatz. Ihn faszinieren die Filme von Wim Wenders und er entdeckt, wie ausdrucksstark dieses Medium ist. Doch das Studium hat nicht die oberste Priorität, wie Samuel schnell zugibt: Seine Leidenschaft gilt der Musik und dem Schlagzeug: Er spielt in der Band einer Kölner Kirchengemeinde und gründet in seiner WG eine „Home Zone“, in der sich die Studenten die Köpfe heiß reden über Gott und die Welt und die gesellschaftlichen Umbrüche. Schnell wird klar, wie leicht auch ihm die Ideen einfach so zufallen, und er entwickelt einen interaktiven Dokumentarfilm. Inspiriert vom Liquid Browsing seines Bruders wird ein Interface programmiert, in dem sich die Nutzer durch den Film klicken können.

Die größte Veränderungen der Menschheitsgeschichte

Die Schnittmengen mit Carsten werden immer größer: Als Visionär sieht dieser die kommenden Herausforderungen. „Wir stehen am Übergang von einer fast nicht vernetzten Welt in eine völlig vernetzte Welt.“ Aktuell seien nur etwa ein Prozent vernetzt, das Internet als „digitales Dokumentennetzwerk eigentlich überholt und noch weit von dem entfernt, was notwendig ist“. Den anstehenden „Shift“ nennt er „eine der größten Veränderungen der Menschheitsgeschichte“. Er will diesen Wandel aktiv mitgestalten und gründet mit Bruder Samuel und Vater Rolf Ende 2014 die Firma SHIFT.

Im nordhessischen Falkenberg, einem kleinen Ort mit weniger als 800 Einwohnern wird weit in die Zukunft gedacht. Doch um diese zu verstehen, muss man an den Anfang von Samuels und Carstens Geschichte gehen: Ihr Vater lehrt Physik und Mathematik an der Universität Gießen. Doch die akademische Karriere nimmt 1970 ein jähes Ende: Die Eltern beobachten, wie immer mehr Studenten in die Abhängigkeit von Drogen und Alkohol geraten, und beschließen, praktisch zu helfen. Statt weiterhin Mathe zu unterrichten, gründen sie ein Hilfswerk: „Hoffnung für dich“. Im selben Jahr wird Carsten geboren und wächst gemeinsam mit Drogenabhängigen in einer Kneipenstraße auf. Die Eltern teilen ihr Leben mit Alkoholkranken und Junkies und praktizieren aus christlicher Nächstenliebe ein offenes Haus: Es gibt Butter vom „Butterberg“, ausrangiertes Brot vom Vortag. Nachhaltigkeit ist kein Fremdwort, sondern Alltag bei den Waldecks. Nach acht Jahren zieht die Familie nach Falkenberg, um den Drogenabhängigen ein ruhiges Umfeld zu bieten. Im selben Jahr wird Samuel geboren. In einem verfallenen Schloss, das mal Kneipe, dann Bordell war, wohnen sie mit fünf Familien wie eine Kommune zuerst in einem einzigen Zimmer. Dann werden nach und nach die anderen Räume renoviert. Grinsend berichtet Carsten, dass im Dorf schnell die Gerüchte kursierten: Ihr Papa sei ein Drogendealer und würde mit mehreren Frauen in einer Sekte leben.

Gänsemarkt Falkenberg
Der Gänsemarkt

Das erste Volks-Phablet

Die Geschwister wachsen mit „gebrauchten Klamotten in einem Schloss auf“. Glücklich berichten sie von ihrer Kindheit im Stroh und der ersten Trekkerfahrt. Mutter Clarita startet eine Pferdefarm. Mitunter sind wöchentlich 100 Kinder auf dem Hof. „Wir haben schon als Kinder gemerkt, dass da ganz viel Erfüllung drinsteckt, wenn man in Menschen investiert“, betont Samuel. In dieser Zeit entdeckt Carsten seine kreative Ader und merkt, wie stark seine visuelle Vorstellungskraft ist. Sie ist heute noch seine wichtigste Begabung. „Ressourcen schonen“ ist bei ihrer Firma SHIFT das oberste Gebot. Während die großen Konzerne darauf setzen, dass die Kunden möglichst jährlich ihr Smartphone gegen ein neues Gerät tauschen, wollen die Waldecks genau das verhindern: „Ein schönes iPhone auf dem Müll“, sagt Samuel, „ist ein hässliches Problem für den Planeten.“

2014 bringen die Waldeck-Brüder ihr „erstes Volks-Phablet“ auf den Markt, ein großes Smartphone mit einem 7-Zoll-Display. „Es hat uns gestört, dass man gezwungen ist, ein neues Gerät zu kaufen, wenn nur ein Bauteil davon kaputt ist“, erzählt Samuel. Entwickelt wird es eigentlich als Monitor für einen Kamerakran, um bessere Filme zu drehen. Doch aus dem „Versehen“ gestalten sie eine Serie von nachhaltigen Smartphones. Mit Crowdfunding sammeln die Waldecks innerhalb von drei Monaten über 100.000 Euro ein und können damit das SHIFT7 selbst produzieren. Die Augen von Carsten fangen an zu strahlen: „Normalerweise kann man erst ab einer Stückzahl von 100.000 Geräten ein Modell im eigenen Design herstellen.“ Dass er als Designer nun sein selbst gestaltetes Produkt launchen kann, empfindet er „als ein richtiges Wunder“.

Die Treue der vielen kleinen Schritte

Die Geräte werden in China fair gefertigt. Ein kleines Team baut sie nach seinen Plänen in einer kleinen Manufaktur und zu Arbeitsbedingungen wie in Deutschland. Doch das Besondere ist das modulare Konzept: Jeder Nutzer kann sein eigenes SHIFT-Phone zu Hause selbst öffnen, um die Kamera, den Speicher oder die Batterie jederzeit auszutauschen. „Egal, ob das Display zerkratzt ist, der Akku nachlässt oder eine technisch ausgereiftere Kamera auf den Markt gekommen ist – die Komponenten lassen sich einzeln nachbestellen, was letztlich die Ressourcen schont und die Langlebigkeit der Geräte erhöht“, erläutert Samuel. Im Gegensatz zu den neuen iPhones ist das nachhaltige SHIFT-Phone kein Luxusprodukt. Bereits ab 444 Euro bekommt der Nutzer ein innovatives Smartphone, dass seit vier Jahren mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wird.

Damit dieser günstige Preis möglich ist, arbeitet die ganze Familie zusammen: Vater Rolf kümmert sich um Finanzen und Verträge, Bruder Samuel um den Support und die Mitarbeiter. Mutter Clarita hilft im Versand und Carstens Ehefrau Deborah engagiert sich in der Kundenbetreuung. Der ganze Familienclan verzichtet bewusst auf große Gehälter und Gewinnausschüttungen, damit ihre gemeinsame Vision in Existenz kommt. Bescheiden lebt Carsten selbst in einem kleinen Fachwerkhaus, dass er für 11.000 Euro gekauft hat. Sein Bruder Samuel nur zwei Häuser weiter. Gleich gegenüber bauen sie momentan einen Dorfladen auf, damit die Einwohner wieder vor Ort einkaufen können und nicht zwingend mit dem Auto in die Kreisstadt Homberg fahren müssen. „Es war uns schon lange ein Anliegen, bei uns im Dorf Produkte aus der Region anzubieten und wieder einen Ort zu schaffen, an dem sich die Menschen treffen und austauschen können“, erzählt der jüngere Bruder.

Soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit

Der träumende Unternehmer, der bereits vor 27 Jahren das iPhone gesehen hat, glaubt, dass wir vor „einer der größten Veränderungen der Menschheitsgeschichte stehen“. Seinen Part formuliert der bescheidene Mann dennoch ziemlich groß: „Ich will mit meinem Bruder dazu beitragen, dass aus einem kapitalistischen System, das hauptsächlich von Macht und Geld getrieben wird, ein werteorientiertes System entsteht.“

Zur Internationalen Funkausstellung im September 2018 in Berlin stellten Samuel und Carsten dann als nächsten Schritt das „SHIFTmu“ vor. Das Paket enthält ein Smartphone, einen Tablet-Bildschirm, einen Hub und eine mobile Tastatur. Statt drei Geräten soll der Nutzer künftig alle Daten in seinem Telefon immer mit dabeihaben. Damit spart er sich die Synchronisation und auch die Cloud. „Das ganze Leben in meiner Hosentasche“ ist ein neuer innovativer Alles-in-einem-Ansatz, der wiederum Ressourcen spart. 2020 soll es auf den Markt kommen. Vorbestellungen unterstützen bereits jetzt die Entwicklungsphase. „Trotz aller harten Zeiten und Tiefschläge fühle ich mich unglaublich beschenkt und glücklich. Ehrlich gesagt fällt es mir schwer, mir vorzustellen, dass es auf diesem Planeten noch einen Menschen gibt, der glücklicher ist als ich“, sagt Carsten noch zum Abschied. Dann zieht er die Haustür zu und widmet sich seinem nächsten Projekt. Gemeinsam mit seinem Bruder Samuel will er das Unternehmen in eine Stiftung überführen, damit die Erträge dem Gemeinwohl zugutekommen: „So viel Gutes tun, wie wir können, und auf dem Weg dahin so wenig Schaden wie möglich anzurichten“ ist ihr gemeinsames Ziel.

Foto: Shiftphone

Text + Filmbeitrag: Rainer Wälde

Weitere Informationen: https://www.shiftphones.com/