Der gute Hirte vom Knüll

Nur wenige Nordhessen ahnen, dass auf dem Knüll Bischof Gerhard Meyer von der Anglikanischen Kirche in Deutschland lebt.

Bischof Gerhard Meyer

Im Rotlichtviertel von Frankfurt

Unter dem braunen Cord Sakko trägt der 74jährige ein purpurfarbenes Bischofshemd mit weißem Kollar Kragen. Es gehört zu seiner Amtskleidung genauso wie das auffällige Canterbury Cross mit vier Herzen. Als ich ihn nach der Metapher des guten Hirten frage, erklärt Gerhard Meyer seinen Hirtenstab, den er bei seiner Ordination zum Bischof 2006 überreicht bekam.

Er berichtet von seiner eigenen Herde mit 16 Schafen: „Da konnte ich Geduld und Taktik lernen. Die Schafe sind hin und wieder ausgebrochen. Ich hatte Mühe sie einzufangen. Schließlich habe ich gelernt: Wenn ich mit einer Schüssel Weizen vor ihnen hergehe und sie immer wieder fressen lasse, folgen sie mir und ich kann sie wieder einfangen.“

Die berufliche Karriere des Gerhard Meyer begann zu Beginn der 68er Jahre auf der Polizeifachschule in Kassel. Nach seinem Abschluss als Polizeiwachtmeister startet er im 8. Polizeirevier in Frankfurt und lebt an der Offenbacher Landstraße. „Das waren bewegte Zeiten“, berichtet er mit einem Schmunzeln. „Als Schutzpolizei mussten wir eine Kette bilden, um eine Veranstaltung in der Paulskirche zu schützen. Unter den Protestierenden war auch Daniel Cohn-Bendit, der von uns abgeführt wurde.“

Immer wieder gerät er in brenzlige Situationen und arbeitet mit Kollegen als zivile Streife im Rotlichtviertel. „Da findet man mitunter auch mal eine Damenpistole im Handschuhfach oder einen Trommelrevolver im Kofferraum.“ 1970 kommt der bekannte Redner Billy Graham nach Deutschland. „Da wurde ich angefragt: Kannst du nicht auf ihn aufpassen?“ Meyer sagt zu „und verbringt eine Woche unter dem Podium“. Diese Predigten verändern sein Leben.

Vom Polizisten zum Bischof

Der Frankfurter Schutzpolizist kündigt kurz vor der Verbeamtung seinen Dienst und gibt Uniform und Gummiknüppel ab. Die Kollegen zeigen ihm den Vogel „Du bist doof – haben sie zu mir gesagt. Doch mir war klar, ich gehe einen neuen Weg.“ Meyer kündigt und macht ein Praktikum bei einer Jugendmission (OM) in der Schweiz und sitzt in dieser Zeit mit seiner Gitarre am Limatkai. „In Zürich habe ich mit Drogenabhängigen gesprochen und ihnen die Bibel erklärt.“ In dieser Phase wird ihm klar, dass er Theologie studieren will.

Seine Frau Grace spielt dabei eine wichtige Rolle. Bereits als 15jährige fällt ihm die junge Amerikanerin auf. Nach Abschluss des Studiums heiraten sie. Bischof Gerhard Meyer zeigt mir seinen Ehering aus Weißgold: „Trachtet zuerst nach Gottes Gerechtigkeit“ liest er vor. Das gesellschaftliche Engagement, das seelische Wohl der Menschen wird zu seinem Kernthema.

Durch seinen Schwiegervater kommt er auf den Knüll. Dieser leitete bislang ein Freizeitheim bei in Seesen und sucht bundesweit nach einem größeren Objekt für Familien und Jugendfreizeiten. „Die ersten sieben Jahre habe ich nur renoviert“, erzählt Gerhard Meyer stolz. „Statt theologisch zu arbeiten, musste ich zuerst das Verputzen und dann Bodenlegearbeiten lernen.“

Das Knüll-Camp mit bewegter Kriegsgeschichte

Das Camp auf dem Knüll wurde vor 90 Jahren als Funkstation gebaut. „Die Soldaten haben es 1934 Schokoladenfabrik genannt, um die Umgebung zu täuschen. Doch in Wirklichkeit war es eine große Funkstation: Damals standen vier große Masten auf dem Knüll, über die Befehle aus Berlin an die Flugzeuge und U-Boote weitergeleitet wurden. Die Generatoren und auch Funkstation standen dort, wo jetzt unsere Küche ist.“

Gerhard Meyer berichtet, wie er in den Offizierswohnungen noch einen alten Waffenschrank gefunden hat. „Hinter der Tapete fanden wir den sarkastischen Slogan: Arbeit macht frei!“ Nach dem Krieg wird das Gelände als „Jugend und Kräuterhof Hoher Knüll“ genutzt. 1951 ziehen 250 Soldaten der US-Armee auf den Knüll, um eine Radarstation zu betreiben. „Unsere heutige Jause war damals noch das amerikanische Kino, in dem Whiskey und Kaugummi zu Wildwest-Filmen konsumiert wurden.“ Danach kam die Bundeswehr für zwei Jahre auf den Knüll.

Als Anglikaner ein Exot

Mittlerweile lebt Gerhard Meyer über 40 Jahre auf dem Gelände. Gemeinsam mit Grace hat er hier vier Mädchen großgezogen. Neben den Schwiegersöhnen haben die beiden auch sieben Enkel. Mit der Anglikanischen Kirche sind die Meyers seit 1974 verbunden. Beide haben in den USA „Cross Culture“ studiert und am Eriesee gewohnt. Später das Theologische Seminar in Philadelphia besucht und „in Marburg fertig studiert“, wie Meyer salopp betont. 1993 wird er in England zum Priester ordiniert.

„Über die Jahre habe ich gelernt weniger selbst zu reden und mehr den Menschen zuzuhören“, erzählt er mit einem Augenzwinkern. „Ich muss erst einmal ihre Fragen verstehen, bevor ich ihnen einen Rat geben kann.“ Als Bischof der Anglikanischen Kirche in Deutschland e.V. ist er nach wie vor ein Exot. „Die Staatskirche von England ist bei uns nur wenigen bekannt.“

Zum Schluss des Gespräches erzählt der 74jährige von seinen ersten Kontakten mit Künstlicher Intelligenz. „Ich will immer was dazulernen.“ Der Seelen-Hirte vom Knüll streicht kurz über den weißen Backenbart. „Deshalb habe ich ausprobiert, ob mir die KI nicht auch interessante Überschriften für meine Predigten liefern kann.“